Sexuelle Achtsamkeit: Warum viele Menschen Probleme mit Lust und Intimität haben – und was wirklich helfen kann

 

Sexuelle Schwierigkeiten sind weit verbreitet. Studien zeigen: Bis zu 31 % aller Frauen weltweit berichten von anhaltenden, belastenden sexuellen Problemen. Libidoverlust ist dabei das häufigste. Selbst junge Frauen sind betroffen: Bereits 1/3 der 18- bis 29-Jährigen beschreiben ein dauerhaft niedriges sexuelles Verlangen (Laumann et al., 1999).

Auch Männer erleben häufig Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität: z.B. Erektionsprobleme, fehlende Lust oder Orgasmusstörungen. Hinzu kommen Leistungsdruck, Angst vor Versagen, das Gefühl, keinen Genuss zu empfinden oder sogar Schmerzen beim Sex (letztere betreffen etwa 20 % der Frauen, kommen aber auch bei Männern vor).

Dabei geht es oft nicht nur um "Sex an sich", sondern um viel mehr: Beziehung, Körperbild, Stimmung, Stress, Überzeugungen und frühere Erfahrungen spielen eine zentrale Rolle.

Was beeinflusst sexuelle Lust und Erregung?

Sexualität ist keine rein mechanische oder hormonelle Angelegenheit. Zahlreiche psychologische und soziale Faktoren wirken mit:

  1. Depression, Angst und Stress: Insbesondere die seelische Verfassung hat großen Einfluss auf sexuelles Verlangen – oft mehr als körperliche Erregungsmerkmale. Dauerstress, mentale Überlastung und die ständige Anspannung im Alltag ("mental load") führen dazu, dass der Körper im Modus von "Kampf oder Flucht" bleibt. Für Lust ist da kein Raum.

  2. Negative Glaubenssätze über Sexualität: Wer Sexualität mit Scham, Schuld oder Pflicht verbindet, dem fällt es schwer, sich mit Neugier oder Offenheit darauf einzulassen. Auch die Art, wie wir als Kinder über Gefühle und Körperlichkeit sprechen durften (oder eben nicht), prägt unser sexuelles Erleben bis heute.

  3. Gesundheitliche Faktoren: Geburt, Schmerzen, Menopause, operative Eingriffe, Medikamente oder chronische Erkrankungen können Erregung, Körperempfinden und Lust beeinträchtigen.

  4. Partnerschaftliche Dynamiken: Emotionale Distanz, ungelöste Konflikte oder ein Gefühl von "funktionieren müssen" können dazu führen, dass Intimität als Druck empfunden wird statt als Symbol für Verbindung.

Warum klassische Sextherapie oft nicht reicht

Lange Zeit wurden sexuelle Probleme wie Lustlosigkeit, Orgasmusschwierigkeiten oder Schmerzen beim Sex entweder als rein körperliches Phänomen oder als Ausdruck psychischer Störungen verstanden. Entsprechend fokussierten sich viele Therapieansätze auf Funktion: Verhalten ändern, Fertigkeiten trainieren, Medikamente einsetzen.

Einige Methoden – etwa Sensate Focus oder kognitive Verhaltenstherapie – können durchaus hilfreich sein. Doch Studien zeigen auch ihre Grenzen: Nicht bei allen Menschen greifen sie nachhaltig. Insbesondere bei Stress, negativen Gedanken, Selbstbildproblemen oder Schamreaktionen kann der rein funktionale Fokus sogar zusätzlichen Druck erzeugen.

Dr. Lori Brotto betont: Nicht die „Funktion“ allein ist entscheidend, sondern die Aufmerksamkeit, mit der wir dem eigenen Körper begegnen – ohne Urteil, ohne Ziel. Genau hier setzt Achtsamkeit an.

Was ist sexuelle Achtsamkeit?

Sexuelle Achtsamkeit überträgt bewährte achtsamkeitsbasierte Verfahren – wie Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) oder Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) – auf den Bereich der Sexualität. Sie basiert nicht auf esoterischen Konzepten, sondern auf fundierter Forschung zur Rolle von Aufmerksamkeit, Körperwahrnehmung und kognitiver Bewertung im sexuellen Erleben.

Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment bewusst zu erleben – ohne Zielorientierung, ohne Bewertung. Körperliche Empfindungen werden wahrgenommen, ohne sofort darauf reagieren zu müssen. Das bedeutet: präsent sein, statt sich von Gedanken ablenken zu lassen; spüren, statt zu funktionieren.

Das Ziel ist nicht primär sexuelle Erregung oder Orgasmus, sondern ein bewusster Zugang zum eigenen Erleben – sei es allein oder in Beziehung. Die klinische Psychologin Dr. Lori Brotto hat diesen Ansatz maßgeblich erforscht und gezeigt, dass Achtsamkeit die sexuelle Zufriedenheit, Lust und Selbstwahrnehmung signifikant verbessern kann – auch bei langanhaltenden Problemen, hoher Leistungsorientierung oder nach belastenden Erfahrungen.

Warum sie wirkt

Achtsamkeit hilft, automatische Reaktionen zu unterbrechen. Statt in Gedanken wie "Was, wenn es wieder nicht klappt?", "Ich muss mich mehr anstrengen" oder "Wie sehe ich aus?" gefangen zu sein, lernen Menschen, den Moment bewusst wahrzunehmen: den Atem, die Berührung, den eigenen Körper – ohne sofort zu reagieren oder zu bewerten.

Zudem verbessert Achtsamkeit die sogenannte Interozeption: die Fähigkeit, innere Körperzustände wahrzunehmen und zu regulieren. Viele lernen, mit unangenehmen Empfindungen (z. B. Spannung, Unlust, Schmerz) anders umzugehen und sie nicht reflexhaft zu vermeiden.

Auch Überzeugungen über Sexualität – wie "Ich funktioniere nicht richtig" oder “Ich bin einfach kein sexueller Mensch mehr” – können achtsam erkannt und nach und nach entkoppelt werden.

Einstieg in die Praxis

Wie sehen Achtsamkeitsübungen im sexuellen Kontext eigentlich aus?
Oft beginnen sie mit Atemübungen, einem bewussten Bodyscan oder der achtsamen Wahrnehmung von Körperempfindungen. Später geht es auch um Berührung, um das Erspüren der eigenen sexuellen Reaktion, ganz ohne Ziel oder Leistungsanspruch.

Wenn du solche ersten Schritte in einem geschützten Rahmen ausprobieren möchtest, kannst du meinen aktuellen Onlinekurs „Intime Achtsamkeit“ nutzen. Er begleitet dich acht Wochen lang dabei, dich mit deinem Körper neu zu verbinden – ruhig, strukturiert und respektvoll. Der Kurs befindet sich noch in der Testphase und ist derzeit kostenlos zugänglich.

Fazit

Sexuelle Schwierigkeiten sind kein Zeichen von Schwäche oder "Störung". Sie sind oft Ausdruck innerer Anspannung, unverarbeiteter Erfahrungen oder erlernter Vorstellungen – und damit veränderbar.

Achtsamkeit ist kein Allheilmittel. Aber sie ist ein ernst zu nehmender, wissenschaftlich fundierter Weg, um wieder ins Spüren zu kommen, Druck zu reduzieren und Sexualität neu zu erleben.

"Motivation for sex may be low… because the sex they have is not worth having." (Lori Brotto) Was wäre, wenn Lust wieder spürbar würde?